Wie würden Sie, liebe Leser, diesen Buchtitel vervollständigen: Was vom Leben übrig bleibt, . . . . . ?
Wie der Buchtitel weitergeht, verrate ich Ihnen später. Sein Autor ist Hans-Jürgen Heinicke, von Beruf Wohnungsauflöser, das heißt, er kümmert sich um den Nachlass, oder wie er es nennt: die Verlassenschaften Verstorbener. Eine spannende Arbeit: „Dieser Augenblick ist für mich der aufregendste, bei fast jeder Räumung. Man steht vor der Tür, dreht den Schlüssel im Schloss herum, drückt die Klinke herunter, macht einen Schritt vorwärts, zieht die Tür hinter sich wieder zu – und mir nichts dir nichts findet man sich in einem vollkommen fremden Leben wieder.“ Manche Fundstücke regen seine Fantasie an: Warum wurden zwei Broschen in Stoffreste gewickelt und in einer Blechdose versteckt? Waren die Liebesbriefe, die im Nähkasten unter Garnrollen lagen, von einem heimlichen Verehrer? „Oft fragt man sich dann nämlich: Wie verhält sich das eigentlich bei dir? Und man fängt an, über sein eigenes Leben nachzudenken oder über das Leben als solches“.
Ich selbst habe beim Lesen des Buches angefangen zu überlegen, was von meinem Leben wohl übrig bliebe. Was würden meine Kinder aufheben? Heinicke hat eine klare Antwort: Sein Buchtitel lautet vollständig: Was vom Leben übrig bleibt, kann alles weg. Eigentlich müsste er ein fast einflechten, denn einige Verlassenschaften konnte auch er nicht in den Müll werfen: Ein während einer Gefangenschaft handgeschnitztes Besteck: „Für mich sind solche Fundstücke lebendige Geschichte.“ Oder eine Mappe mit Zeugnissen aus den zwanziger Jahren, über die er mit einem Bekannten diskutierte. Dieser fand, man müsse sie aufheben, weil es doch sehr persönliche Sachen seien. Heinicke fragt: „ „Findest du?“ Ein Schulterzucken seinerseits. Daraufhin fragte ich: „Sind sie wirklich so persönlich, wenn es die Person, der sie gehörten, gar nicht mehr gibt?“
Heinicke hat die Zeugnisse aufgehoben. So wie ich die Zeugnisbücher meiner Großeltern. Sie stehen im Regal und ich hole sie bestimmt ein bis zweimal im Jahr hervor um sie jemandem zu zeigen. Von meiner geliebten Tante besitze ich ein Tablett mit rot orangenem Muster, von meinem Onkel ein Marmeladentöpfchen in Erdbeerform und der Zucker ruht in einem Schälchen aus dem Service meiner Großeltern. Ich habe einige wenige Dinge meiner Vorfahren aufgehoben, Dinge, von denen manche mich sogar täglich an die Menschen erinnern, denen sie einst gehörten. Sie bedeuten mir viel.
Grit, was hälst Du von solchen Erinnerungsstücken? Oder kann für Dich alles weg, was vom Leben übrig bleibt?
Hallo Katja,
vielen Dank für diesen schönen Artikel! Mein erster Impuls war: „Natürlich sind Erinnerungsstücke wichtig.“ Gerade als Biographin, die die Erinnerungen anderer Menschen bewahrt, kann ich gar nicht anders urteilen. Doch je länger ich darüber nachdenke, desto weniger sehe ich den Wert in den Dingen, sondern allein in den Erinnerungen, die sie hervorrufen. Vielleicht stimme ich Herrn Heinicke sogar zu, wenn er etwas provokativ postuliert „Was vom Leben übrig bleibt, kann alles weg“, sofern er sich damit nur auf die materiellen Dinge bezieht, die er tagtäglich entsorgt. Denn Angehörige, die den Verlassenschaften Leben einhauchen könnten, gibt es ja wohl nicht. Sehr traurig! Zufälligerweise habe ich letzte Woche im Fernsehen einen Auftritt der bayrischen Kabarettistin Monika Gruber gesehen, der gut zu dem Thema passt und nachdenklich stimmt:
http://www.youtube.com/watch?v=5d8Dfk2w2j8&feature=related (nicht mehr aktuell)
Aber zurück zu den Erinnerungsstücken geliebter Menschen, die wir aufbewahren. Im Grunde sind auch sie vergänglich, wenn mit uns die Erinnerung stirbt. Vielleicht bin ich deshalb Biographin geworden. Denn ich hoffe, dass eine geschriebene Biographie, anders als einzelne Erinnerungsstücke, über Generationen hinweg von mehreren Menschen, ja vielleicht sogar von Menschen gelesen wird, die die Person gar nicht persönlich kannten. Das gibt ein kleines bisschen Hoffnung auf Unsterblichkeit.
Liebe Katja,
du hast ein Buch vorgestellt, das mich – obwohl ich es noch gar nicht gelesen habe – sehr beschäftigt.
„Wohnungsauflöser“. Der Beruf des Autors scheint mir ein sehr trauriger zu sein. Okay, es ist sicherlich spannend, die Wohnung eines anderen Menschen zu betreten und zu entdecken, was er in seinem Leben gesammelt hat, welche Dinge ihm wichtig waren und woran sein Herz besonders hing. Doch nach Befriedigung der ersten Neugier – so stelle ich es mir zumindest vor – muss den Wohnungsauflöser unweigerlich eine große Leere überkommen, denn tausend Fragen bleiben unbeantwortet.
Nehmen wir einmal an, an einer Wand entdeckt er eine afrikanische Maske. War die alte Dame selbst einmal in Afrika? Wurde sie ihr von einem Freund geschenkt? Oder hatte sie vielleicht einen Geliebten, der in Kenia lebte? Der Wohnungsauflöser wird das Geheimnis nie lüften können, die Geschichte um die Maske ist verloren.
Uns Biografinnen würde es das Herz brechen, dass all diese Geschichten unwiderruflich verloren sind und der Mensch damit gänzlich verschwunden. Unser Anliegen ist nämlich das Bewahren von Erfahrungen und Erlebnissen, das Festhalten von Leben und von Geschichten – nicht das Wegwerfen. Und so spürt der Wohnungsauflöser lediglich die Leere eines Menschenlebens auf, wir Biografinnen dagegen die Fülle.
Der Vergleich hat mir noch einmal gezeigt, wie wertvoll unser Beruf ist. Also, lasst uns weiterschreiben, liebe Mädels!
Ganz liebe Grüße von
Claudia Cremer
Man merkt, dass Sie das Buch natürlich nicht gelesen haben.
Der Titel beschreibt, dass die Dinge Ihren ursprünglichen Raum verlassen müssen, und weg heißt nicht immer endgültig entsorgt. Das betrifft überwiegend den öden Wohlstandsmüll aus der industriellen
Massenproduktion. Wie hätte ich sonst die Seiten des Buches füllen können?
Es ist wie so oft, dass Menschen eine Meinung haben aber nichts wissen.
Das ist natürlich nichts Schlimmes und entspricht ja dem Zeitgeist.
Wie kommen Sie darauf, dass der Beruf traurig ist? Sie glauben gar nicht wie sehr wir das Leben schätzen und es genießen können. Und das als Ergebnis des Jobs. Man kann dabei sehr viel für das eigene Leben lernen.
Der Autor
Lieber Herr Heinicke,
wenn ich Sie mit meinem Kommentar gekränkt habe, dann tut mir das sehr leid. War nicht meine Absicht. Entschuldigen Sie bitte!
Warum ich Ihr Buch nicht gelesen habe? Der Titel „Was vom Leben übrig bleibt, kann alles weg“ hat mich davon abgehalten. Doch nach ein wenig Recherche im Internet (Rezensionen, Fernsehinterviews mit Ihnen) habe ich nun den Eindruck bekommen, dass Sie so manches zu erzählen haben. Ich werde mir Ihr Buch kaufen und bin schon gespannt auf Ihre Geschichten.
Herzliche Grüße
Claudia Cremer