Lange habe ich gezögert, einen Blog-Beitrag über Alzheimer-Demenz zu schreiben. Zu persönlich betroffen fühlte ich mich mit meiner an dieser tückischen Krankheit leidenden Mutter. Aber unser Biographiegespräch beschäftigt sich mit dem Leben und seinen Geschichten – und Alzheimer gehört zum tagtäglichen Leben meiner Familie.
Obwohl in Deutschland inzwischen über 1,3 Million Menschen an Alzheimer-Demenz erkrankt sind, wissen viele nicht, wie sie mit den Betroffenen umgehen sollen. Oft erleben wir, dass selbst Freunde unangenehm berührt sind von dem manchmal seltsam anmutenden Verhalten der Demenz-Kranken und immer mehr den Kontakt vermeiden. Ich habe manchmal das Gefühl, sie haben Angst vor Ansteckung . Eine innere Haltung nach dem Motto, „na ja, sie kann sich ja sowieso nicht daran erinnern, was ich sage oder tue“, macht sich oft, zumindest unterschwellig, bemerkbar.
Dieses Verhalten bzw. die stark wachsende Zahl Demenzkranker wirft wichtige ethische Fragen auf, wie z. B. was denn ein Leben ohne Erinnerung überhaupt wert ist. Leben und handeln viele Menschen nicht nach Descartes‘ Motto „Ich denke, also bin ich?“ Würde das im Umkehrschluss nicht bedeuten, „Ich kann mich nicht an mein Gedachtes erinnern, also bin ich nichts?“
Als tröstlicher empfinde ich folgende Aussage des Philosophen und Psychiaters Thomas Fuchs: „Was wir vergessen haben, ist zu dem geworden, was wir sind.“
Er bezeichnet das als Leibgedächtnis, welches laut Fuchs auf der „grundlegenden Erfahrung der Vertrautheit mit der Welt beruht und unsere tief verinnerlichten Erfahrungen umfasst.“ Daran muss man sich nicht erinnern, das spürt man und das bleibt.
Je länger ich mich mit dem Thema beschäftige, desto mehr stelle ich den Sinn weiterer gut bekannter Zitate infrage, so z. B. auch das von Jean Paul, das wir Biographinnen eigentlich gerne zitieren: „Die Erinnerung ist das einzige Paradies, aus dem wir nicht vertrieben werden können.“
Nein, das kann ich inzwischen so nicht mehr bestätigen. Dieses Paradies kann sich in ein bedrohliches leeres Nichts verwandeln.
Ich könnte jetzt eine ganze Abhandlung über meine Meinung zum Wert eines Lebens ohne Erinnerungen schreiben, überlasse dies aber den Fachleuten und möchte Ihnen, liebe Leser, sehr das Buch Als meine Mutter ihre Küche nicht mehr fand von Jörn Klare (suhrkamp Taschenbuch, ISBN 978-3518464014) ans Herz legen, in dem sich der Autor unter anderem intensiv mit dem Stellenwert des Erinnerungsvermögens in unserer Gesellschaft beschäftigt.
Auszug aus dem Klappentext:
Erst verlegte sie ihre Brille, dann vergaß sie ein paar PIN-Nummern, schließlich fand Jörn Klares Mutter ihre Küche nicht mehr. Am Ende stand die Diagnose Demenz. Die Besuche im Heim werfen Fragen auf: Sind Erlebnisse nur dann etwas wert, wenn wir uns daran erinnern? Kann man seine Würde oder gar »sich selbst« verlieren? Und liegt in den Begegnungen im Hier und Jetzt nicht auch ein Trost? Bereits heute leben in Deutschland 1,3 Millionen Menschen, die von Demenz betroffen sind, 2050 werden es doppelt so viele sein. Jenseits der Klischees von grauen Heimen und überfordertem Personal sucht Jörn Klare nach anderen, weniger bedrückenden Sichtweisen auf diese immense gesellschaftliche Herausforderung. Ausgehend von den bewegenden Besuchen bei seiner Mutter, macht er sich auf den Weg zu Experten und Praktikern, zu Ärzten und Juristen, Philosophen und Altenpflegern. Mit ihnen spricht er über das Leben, den Tod und das, was dazwischen liegt.
Hallo Grit,
Erinnerung ist sicher etwas wunderbares. Manchmal rettet sie einen in der Gegenwart, wenn Verzweiflungen zu groß werden. Manchmal helfen sie, besser zu verstehen, manchmal sind sie einfach nur schön. Großeltern, die ihren Enkeln etwas zu erzählen haben, sind ein großes Geschenk. Doch halte ich eine Erinnerungsverherrlichung für Verblendung. Jeder hat doch schon mal im Rückblick auf eine unangenehme Phase oder Situation gesagt – daran darf ich gar nicht denken! Vergessen kann auch etwas Heilsames sein. Vielleicht ist es jetzt nicht gerade die richtige Biographeneinstellung. Ich möchte mich dir nur anschließen in der Haltung, den Wert der Erinnerung nicht zu überhöhen. Das Zitat von Herrn Fuchs wirkt auf mich sogar tröstlich. Wie auch immer unser Leben war, es hat uns zu dem gemacht, was wir heute sind, auch die Dinge, die wir nicht in Worte fassen können oder wollen.
Wenn die Erinnerung ausbleibt, findet ja noch immer Leben statt und zwar in genau diesem Moment. Und den sollten wir schätzen lernen, das könnten wir von einem Demenzkranken Menschen lernen. Ich habe Situationen mit meiner Mutter in ihrem kleinen Freundeskreis erlebt, wie über ihre Schwächen einfach hinweggesehen und das aufgenommen wurde, was noch da war, nämlich ihre Geselligkeit. Dort wurden unvollendete Sätze manchmal aufgegriffen und weitergeführt. Meine Mutter war so weiter Teilnehmerin in diesem Gespräch. Ich schenkte ihr ein Notizbuch, als sie selber feststellte, dass ihr auf einmal alte Geschichten in den Sinn kamen, deren Existenz sie Jahrzehnte nicht wahrnahm. Ich hoffte, sie würde diese Augenblicke nutzen. Als sie schon nicht mehr in der Lage war, für sich selber zu sorgen, weil sie den einfachsten Dinge hilflos gegenüberstand, schaute ich mit ihr zusammen alte Fotos an. Ich erzählte ihr Episoden, die mit diesen Bildern in Verbindung standen. Sie konnte sich nicht mehr daran erinnern, anfangs war ihr das ziemlich unangenehm, doch mit der Zeit genoss sie einfach die Geschichten, die ich erzählte – übrigens ohne: Weißt du noch? Es war ein besonders schöner Nachmittag.
Das waren allerdings alles nur seltene Momente. Ich wünsche mir, dass wir lernen darauf zu schauen, was geht, nicht darauf, was nicht geht. Da lässt sich vieles ausgleichen. Das Vertuschen ist für den Kranken selber, wie für seine Angehörigen eine viel zu hohe Last. Als meine Mutter nicht mehr die Kraft hatte, ihre Mankos zu verbergen, war sie viel entspannter. Ich wünsche mir, dass dieses Versteckspiel aufhört, das nur belastet, doch nicht gelingt. Es würde alle entlasten, den Kranken, die Angehörigen, Freunde, Nachbarn.
Christian Zimmermann aus München ist wohl einer der bekanntesten Alzheimerkranken in Deutschland. Er hat zusammen mit Peter Wißmann ein Buch über sein Leben mit der Krankheit geschrieben: „Auf dem Weg mit Alzheimer – Wie sich mit einer Demenz leben lässt“
Darin erklärt er auch, wie die beiden miteinander gearbeitet haben, da er sich an den Vortag schließlich kaum noch erinnern konnte.
Das kann ich nur empfehlen, weil es einen großen Beitrag dazu leistet, normaler mit dieser Krankheit umzugehen und damit hilft, dass sich die gesunden Menschen nicht mehr zurückziehen müssen. Ich habe ihn vor einigen Jahren bei Rangar Yogishwar in „Quarks und Co.“ vom WDR gesehen. Dort erzählte er, dass er Theater in einer Laienspielgruppe spielte. Natürlich spielte er nur Rollen ohne Text, es wäre doch nicht schön, wenn Hamlet auf einmal nicht mehr weiter wüsste. Seine Rollen waren auf Improvisation angelegt, also auf seine Einfälle in diesem Moment. Zum Beispiel als Kellner, der in der Szene mitmischte. Die gesamte Truppe schätzte seine äußerst humorvollen, spontanen und doch einfühlsamen Ideen – alles ohne Worte.
Ich wünsche mir, dass so oder so ähnlich ein Leben möglich wäre, die schlimme Zeit, in der die Zerstörung des Gehirns auf alle Körperfunktionen greift, kommt früh genug.
Liebe Elfie,
herzlichen Dank für diesen so ausführlichen und offenen Kommentar. Ja, der Umgang mit Demenzkranken lehrt wirklich, den Moment und die kleinen Dinge des Lebens zu schätzen. Jede Blüte ist für meine Mutter ein neues Wunder, an dem sie sich erfreuen kann. Gemeinsam verweilen wir und sehen den Wolken zu. Würde ich das sonst auch tun? Eher selten in dieser schnelllebigen Welt. Allerdings darf man das jetzt auch nicht beschönigen. Diese Krankheit ist tückisch und bringt Betroffene wie Angehörige nicht nur emotional an ihre Grenzen.
Ich habe mir Deine Buchempfehlung angesehen, allein das Inhaltsverzeichnis klingt sehr interessant.
Dein Rat, darauf zu schauen, was geht, und nicht darauf zu schauen, was nicht geht, ist ein kluger und lässt sich auf viele (alle?) Lebensbereiche übertragen.
Hallo Grit,
Du hast völlig recht, da gibt es nichts zu beschönigen. Ich denke nur, der Fokus sollte darauf liegen, wie ein kranker Mensch in die Umgebung eingebettet werden kann, zur Entlastung aller, es bleibt genug Tückisches und Unberechenbares übrig. Eine Kleinstadt in Schleswig-Holstein stellt sich diesem Thema mit Aufklärung für alle und Not- und Beratungstelefonnummern, um eine Art Nachbarschaftshilfe aufzubauen. Ziel ist es, einen verwirrten Menschen zu erkennen und ihm richtig begegnen und ihm helfen zu können, wieder nach Hause zu finden. Auch das ist eine Entlastung der Angehörigen, wenn ein großräumigeres Netz entsteht und nicht die Mikrofamilienzelle allein da steht.
Ja, das klingt wirklich nach einer guten Initiative, liebe Elfie. Es gibt Hoffnung, dass das Thema Demenz immer mehr im Fokus der Gesellschaft ankommt und man beginnt zu handeln.
Bei meinen Eltern stellt es sich als großer Vorteil heraus, dass sie nun seit ca. 50 Jahren in einem kleinen Dorf wohnen, in dem jeder jeden kennt. Wenn meine Mutter mal „verloren“ geht, gibt es immer helfende Hände, die sie wieder nach Haus geleiten.
Hier in Bensheim wurde inzwischen ein kleiner Demenz-Wegweiser herausgebracht, der unter anderem nützliche Tipps gibt, wie man sich am besten mit desorientierten Menschen verhält. Vielleicht baut dieser ja auch ein wenig vorhandene Hemmschwellen ab.