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Ganz doll freuen wir uns, wenn Sie unsere Übungen so wunderbar umsetzen wie Ulli Kammigan. Er hat Grits viertes Worksheet Bilder sagen mehr als 100 Worte zum Anlass für den folgenden Text zu einem Kinderfoto von sich selbst genommen:

Nachkriegskind

Ich weiß nicht mehr genau, ob es 1951 oder 1952 war. Egal:

 

Wir waren arm. Sehr arm. Das graublaue Mäntelchen hatte Mutti aus einem alten Armeemantel von Opa genäht. Opa war vor einem oder zwei Jahren gestorben. Die großen Knöpfe stammten aus Omas Knopfkiste, in der jeder Knopf landete, egal ob er von einem alten nicht mehr gebrauchsfähigen Kleidungsstück stammte oder auf der Straße gefunden wurde. Ich besaß nur diesen einen Mantel, den ich ab Spätherbst bis zum Frühjahr trug. In der übrigen Jahreszeit waren kurze Lederhosen angesagt mit einer von zwei Knöpfen gehaltenen Klappe vorn. Ansonsten besaß ich ein von Mutti genähtes Hemd, selbstgestrickte wollene Unterwäsche, die entsetzlich kratze und über dem Hemd, je nach Außentemperatur, einen gestrickten Pullunder, so hieß der Pullover ohne Ärmel.

 

Ich schaute fröhlich aus, denn ich war auf dem Weg zu meinem Freund Robert, der 200 Meter weiter in der Straße wohnte. Fröhlich deswegen, weil ich frei hatte. Frei von der Gartenarbeit, die einen Großteil meiner frühen Jugend bestimmte. Meine Oma, die mich und meinen älteren Bruder tagsüber betreute, wenn Mutti zur Arbeit war, wenn sie denn überhaupt Arbeit hatte, – also meine Oma hatte feste Vorstellungen von der Erziehung eines Kindes und dazu gehörte Gartenarbeit. Der Garten war 3.000 Quadratmeter groß und bestand zum größten Teil aus Obstbäumen und Gemüsebeeten. Letztere mussten ständig von Unkraut freigehalten werden. Ich hasste diese Arbeit, denn während ich Unkraut jäten musste, konnten meine Freunde spielen. Ich hasste aber nicht nur das Unkrautjäten, sondern ich hasste auch jegliches Gemüse. Insbesondere wenn es endlos lang gekocht mit einer geschmacksneutralen Mehlpampe übergossen auf dem Teller lag. Da wir uns Fleisch nur selten leisten konnten, wäre ich wohl verhungert, wenn mich Oma nicht gezwungen hätte, das widerliche Zeug auf dem Teller herunterzuwürgen.

 

Nun aber durfte ich Spielen. Vorbei an den vielen Moortümpeln des Niendorfer Ohemoores tippelte ich zu den winzig kleinen Häuschen, in dem Robert mit seiner Oma hauste.

Robert war nicht da, die Gartenpforte war verschlossen. Was tun? Zurück nach Hause wollte ich auf keinen Fall, denn falls mich Oma dort zu fassen bekam, könnte sie ihre Entscheidung womöglich widerrufen und das nächste Gemüsebeet wäre dann meines gewesen.

 

Also stromerte ich allein durch die Gegend. In der Straße ohne Namen warf ich nicht nur begehrliche Blicke, sondern anschließend auch Stöckchen auf die kleinen, noch nicht ganz reifen Äpfel, in der Hoffnung einen so zu treffen, dass er sich vom Ast löste. Zu Hause war es uns Kindern absolut verboten, jegliches Obst von den Bäumen zu pflücken. Die Straße hatte keinen Namen und hat ihn bis heute nicht, weil keiner der Anwohner einen Zugang zu dieser Straße hatte. Die Zugänge waren jeweils zu den angrenzenden Straßen.

 

In dieser Straße ohne Namen kam mir ein Mann entgegen. Der trug ein Gerät in der Hand, das ich zwar noch nie gesehen hatte, aber vom Hörensagen kannte: einen Fotoapparat. Er sprach mich an und sagte dass er mich fotografieren wolle. Ich war geschmeichelt und strahlte. Jemand interessierte sich für mich! Für ein Kind! Wo doch sonst die Erwachsenen eher der Meinung waren, Kinder hätten den Mund zu halten, wenn Erwachsene reden und die wichtigste Eigenschaft eines Kindes, und damit eines unfertigen Menschen, sei, sich in äußerster Bescheidenheit zu üben. Das hatte auch ich verinnerlicht.

Der fremde Mann machte seine Fotos und fragte mich dann, wo ich wohne, denn er wolle in ein paar Tagen die Bilder meinen Eltern zeigen. Ich gab bereitwillig Auskunft.

 

Tatsächlich erschien der Mann wenige Tage später bei meiner Oma und wollte ihr die Bilder verkaufen. Da war er aber an die Falsche geraten. Sie rannte zurück in ihr kleines Häuschen und kam kurz darauf mit dem Teppichklopfer zurück, den sie drohend gegen den Eindringling schwang. Der Fotograf war so erschreckt, dass er ihr schnell eines der Fotos in die Hand drückte und sich dann eilends davonmachte.

Ja! Und das ist es, das Foto.

1 Kommentar

  1. Grit

    Danke für diese schöne Geschichte, Ulli! Hoffentlich folgen weitere Leser Deinem Beispiel.
    Viele Grüße
    Grit