Im vorletzten Fleißigen Dienstag ging es um Sammelleidenschaft in der Kindheit. Ulli Kammigan hat dazu einen amüsanten Text verfasst, den ich Ihnen nicht vorenthalten möchte:
Heute mag ich es kaum laut sagen, denn es ist mir peinlich: Als Kind habe ich Briefmarken gesammelt. Aber die kleinen gezackten Bildchen haben mich nicht wirklich interessiert. Sie waren nur Mittel zum Zweck. Genauer: zu zwei Zwecken.
Ich wollte reich werden. Und das, so glaubte ich, könne man mit Briefmarkensammeln. Mein Onkel, großer Philatelist vor dem Herrn, schenkte mir aus lauter Freude darüber, seinen Neffen zu diesem Hobby überredet zu haben, einen Briefmarkenkatalog.
Mit glänzenden Augen betrachtete ich die kleinen dort abgebildeten Marken. Ganz besonders die, deren Wert im Katalog mit einigen Hundert Mark angegeben war. Wenn ich eine dieser Marken damals – zu Beginn der Bundesrepublik – am Postschalter für fünfzig Pfennig erworben hätte, hätte ich einen Gewinn von vielen Tausend Prozent einstecken können. Und wenn ich vielleicht zehn davon gekauft hätte …? Oder sogar einen ganzen Bogen mit hundert Marken …?
Mein Gott! Wie reich wäre ich geworden?
In der Zeitung hatte ich gelesen, dass bei einer Versteigerung für eine einzige Marke umgerechnet über eine Million Mark erzielt wurde. Die hieß Blaue Mauritius. Wow! Ich schwebte auf Wolken aus Geld und kleinen gezackten Papierschnipseln.
Der Boden der Tatsachen
Doch irgendwann, ich war ein bisschen älter geworden, fiel ich aus allen diesen Wolken und knallte unsanft auf den Boden der Tatsachen. Schuld daran war etwas, das auch an mir nicht vorübergegangen beziehungsweise vor dem auch ich nicht gefeit war: ein Rest von Verstand. Er ereilte mich. Sogar mich als Briefmarkensammler. Der fragte, woher ich denn hätte wissen können, damals als die Marke herauskam, dass sie später einmal solch einen Wert bekommen würde, nur weil die Post eine Marke mit einem Wert bedruckt hatte, für den es eigentlich keine Verwendung gab und daher den Druck alsbald einstellte.
Und dann fing der Verstand sogar an, mich zu verhöhnen. »Du Blödmann!«, lästerte er, »du warst damals zu Beginn der 50er-Jahre arm wie eine Kirchenmaus. Du hattest nicht einmal Taschengeld. Wovon hättest du denn auch nur eine Marke kaufen können. Fünfzig Pfennige waren für dich unerschwinglich.«
Ich musste kleinlaut zugeben, dass vielleicht man, aber keinesfalls ich, auf diese Weise hätte reich werden können.
Also führte ich den zweiten Grund an, der für das Briefmarkensammeln sprach. Es gab damals ein geflügeltes Wort dafür, wie man an das so wahnsinnig interessante andere Geschlecht herankommen konnte, nämlich: »Kommst du mit zu mir? Ich zeig dir auch meine Briefmarkensammlung!« So machte es unter uns pubertierenden Jungen die Runde und so manch fabulierte Erfolgsgeschichte ließ uns das Wasser im Mund zusammenlaufen. Naja! Das mit dem Wasser im Mund ist wohl ein unpassendes Bild. Da lief ganz etwas anderes.
Zuversicht!
Voller Zuversicht machte ich mich also auf, die Mädchen mittels der Briefmarkensammlung in mein Reich zu locken. Doch erneut trafen mein Kopf und der Boden der Tatsachen schmerzhaft aufeinander. Ich hatte kaum das Wort Briefmarkensammlung ausgesprochen als ich auch schon von einem dieser begehrenswerten Geschöpfe eine Staubwolke sah. Ich konnte gar nicht so schnell gucken, wie das Mädel verschwunden war.
Der kleine Rest meines Verstandes, der trotz Pubertät sich nicht gänzlich verabschiedet hatte, kletterte widerwillig aus meiner Hose nach oben, übernahm das Hirn und befahl, meine Briefmarkensammlung in die hinterste Ecke des Kellers zu verbannen und nie wieder anzurühren. Das tat ich dann auch.
Der bessere Trick
Sehr viel später übernahm meine Schallplattensammlung die Aufgabe der Briefmarken. Und merkwürdig! Es funktionierte. Warum, habe ich damals nicht herausbekommen. Vielleicht lag es daran, so dachte ich, dass kein junger Mann Mädchen oder Frauen, diese Wesen aus einer anderen Welt wirklich verstehen kann. Heute ist mir bewusst, dass Musik sicherlich eine andere Wirkung auf diese merkwürdigen Geschöpfe ausübt als kleine gezackte Papierschnipsel.
© Ulli Kammigan, August 2018