Auszug – das Elternhaus auszuräumen ist ein besonderes Ereignis in der Biografie eines jeden Menschen: Es bedeutet nicht einfach Magic Cleaning nach Marie Kondo oder Marla Cilleys Aufräumpraxis mit der Küchenspüle als magischem Mittelpunkt. Es ist mehr: Ein Abschied von den Eltern, der endgültige Abschied von der Kindheit und die Erkenntnis, nun zur ältesten Generation der Familie zu gehören – selbst wenn noch keine Enkel da sind.
Auszug mit 87 Jahren
Bei Ursula Ott ist der Fall in ihrem Buch Haus meiner Eltern hat viele Räume ein bisschen anders: Ihre Mutter zieht mit 87 Jahren gerade rechtzeitig genug aus, um noch an einem neuen Ort zarte Wurzeln schlagen und ein eigenständiges Leben führen zu können. Es soll zunächst ein Auszug auf Probe sein. Umsichtig, wie die gesamte Familie mit dem Vorhaben umgeht, wird bald deutlich, dass es gelingt.
Ursula Ott verwebt gekonnt das Einzelschicksal ihrer Mutter, die sofort nach ihrer Heirat zur Hausfrau wird, mit dem großen Ganzen der Geschichte der Bundesrepublik in der Nachkriegszeit. Arbeiten, sparen, anschaffen, sich nichts gönnen – das ist die Generation vor den Babyboomern der 60er. Die Grausen des Krieges versiegen nie wirklich in den Herzen und Seelen, werden aber ignoriert. Sie sind sogar noch bei der nächsten Generation der heute 50-60-jährigen spürbar. Ursula Ott hat Ingrid Meyer-Legrand und Sabine Bode gründlich gelesen, die als Expertinnen diese Generation immer wieder unter die Lupe genommen haben.
Junge Leute heute
Ursula Ott schlägt aber auch einen Bogen zu den jungen Leuten von heute. Diese hätten nach ihrer Erfahrung nicht das Bedürfnis, alles selbst zu besitzen. Für sie trage der Lebensstil mehr zur Identität bei als ein Gegenstand oder Statussymbol. Wenn sie da mal nicht irrt – der Ausschnitt, den sie aus eigener Anschauung wählt, ist naturgemäß klein: Eltern mit Eigenheim im Westen Deutschlands, deren Kinder studieren und deren Kindeskinder Auslandssemester in Tansania verbringen. Vermutlich haben sie allerlei soziale Praktika gemacht. Viel ist von Geflüchteten die Rede, umsichtig wird vor dem Auszug alles verteilt, jeder Gegenstand des Elternhauses von allen Seiten gründlich betrachtet. Aber das hat den Vorteil, dass das Buch wie eine vorsichtige Gebrauchsanleitung zum Auszug fungieren kann.
Fazit
Das Buch von Ursula Ott ist ein abwechslungsreicher Mix von rührenden Momenten, vorsichtigen Fakten und humorvollen Einsprengseln. Dieses Buch vom Auszug macht Spaß, auch wenn es an der einen oder anderen Stelle noch ein wenig tiefer gehen könnte. Aber dafür gibt es am Ende nach einem amüsanten Aufräum-ABC den kompakten Literaturanhang.
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