Die Einladung von Katja, in ihrem Biographie-Blog einen Beitrag zu schreiben, in dem ich über meine Erlebnisse und Begegnungen aus inzwischen 13 Jahren KlinikClown-Tätigkeit u.a auch in Seniorenheimen erzähle, nahm ich zunächst mal mit einem gelassenen „Kein Problem“ an. Doch mit den Gedanken darüber, wie ich es anstellen soll, ging es dann los: Wo anfangen? Denn dass es eine Menge zu erzählen gibt, darüber gibt es keine Zweifel.

Und dass ich in diesen vielen Jahren oft Zeugin und auch Teil von wunderbaren Momenten sein durfte, aus denen sich meterweise Bücher verfassen lassen, macht die Auswahl nicht gerade leichter. Tja, und die Erkenntnis, dass diese Momente auch Teil meiner eigenen Biographie sind, macht für mich nebenbei auch noch ein ganz anderes Fass auf….

Nachdem Katja auf meine Frage, wie viel ich denn schreiben darf antwortete: „Mach mach mach!“ gab es also in dieser Hinsicht auch kein Auswahlkriterium, also mach ich jetzt einfach mal.

Vielleicht sind ein paar Infos zu meiner Person erstmal nützlich: Mein echter Name ist Ulrike Schneider, ich bin 1968 Hamburg geboren und dort aufgewachsen und lebe seit bald 20 (!) Jahren in Bayern, davon seit 7 Jahren ca. 60 km westlich von München, in der Gegend, aus der meine Mutter stammt. Die norddeutsche Mentalität hab ich mitgenommen, aber durch meine Mutter bin ich immerhin zweisprachig aufgewachsen. Warum das erwähnenswert ist wird sich später zeigen.

Als sich vor 17 Jahren in München der Verein KlinikClowns e.V. gründete, legte mir eine Freundin nahe, mich dort zu bewerben, denn ich wäre dazu prädestiniert – womit sie Recht hatte, denn ich wurde tatsächlich in den Kreis der bayerischen KlinikClowns aufgenommen. So wurde ich also mit meinen Erfahrungen als Schauspielerin und Theater-und Zirkuspädagogin losgeschickt, in Kinderkliniken und Seniorenheimen den Patienten und Bewohnern ein Lächeln ins Gesicht zu zaubern und ihren Aufenthalt mit Humor und positiven Schwingungen zu erleichtern.

Mein alter Ego „Florentine Spack“ zog also los mit einem erfahrenen Kollegen im Schlepptau und wurde bei ihrem ersten Besuch auf einer geschlossenen Station mit Demenzkranken zunächst erstmal mit einem feuchten Handkuss von einem Herren empfangen, der ihr dann nicht mehr von der Seite wich. Gott sei Dank war mein Bayrisch so gut, dass ich zumindest die einzelnen Wörter gut verstehen konnte…Mein Kollege, leider nicht sehr musikalisch, fing an, mehr schlecht als recht alte Volksweisen und Schlager anzustimmen, bei denen ich ihn mit meiner um einiges treffsichereren Intonationsfähigkeit gut unterstützen/retten konnte.

Es war mir sehr schnell klar, dass ich bei dieser Arbeit (ich will es lieber „Aufgabe“ nennen…) von etwas profitieren konnte, von dem ich nie gedacht hätte, dass es mir jemals zu etwas nützlich sein wird: Meine Musik-Datei im Hirn, auf der so gut wie alle Schlager abgespeichert waren, die in den 70ern/80ern in der Deutschen Schlagerparade auf NDR 2 mit Ilse Rehbein rauf und runter gespielt wurden, sowie etliche Nummern aus den 20er -60 Jahren, die sich z.T. schon an diversen Lagerfeuern und wein-/bierseligen Sitzungen bewährt hatten.

Kurz und gut: Florentine Spack etablierte sich als Living-Jukebox, die zu fast jeder Situation das passende Lied hervorzaubern konnte, notfalls auch mit spontan erfundenen Texten. Und hier fängt das wirklich Faszinierende und Berührende an dieser Aufgabe an:

Wir sind als KlinikClowns, egal ob Klinik, Seniorenheim oder wo auch immer, nie mit einem festen Programm unterwegs, das den Menschen vorgespielt wird. Das was bei der Begegnung passiert, entscheidet sich immer aus dem Moment heraus und ist nie geplant.Wir besuchen die Menschen in ihren Zimmern, z.T. begegnen wir ihnen auf dem Gang oder im Aufenthaltsraum. Und jede Begegnung ist individuell und speziell an dem Menschen ausgerichtet, den wir gerade vor uns haben, ganz gleich in welchem Zustand er sich gerade befindet.So haben wir die Möglichkeit, einen sehr direkten Zugang zu finden, wenn dieser Mensch dafür offen ist. Die Musik und die alten Lieder sind uns hierbei schon oft ein Schlüssel gewesen. Denn die Erinnerung an die Lieder, die man aus der Kindheit und aus der Jugendzeit kennt, liegt in dem Bereich des Gehirns, wo trotz Demenz und anderer altersbedingter Verwirrtheit die tiefsten Erfahrungen des Lebens verankert sind und beim entsprechenden Stich-bzw. Zauberwort wieder lebendig werden können. Ich durfte es oft erleben, wie beim Anstimmen einer bekannten Melodie trübe Augen plötzlich wach wurden, wie gelacht, geklatscht und je nach Konstitution sogar getanzt und manchmal auch ein Tränchen vergossen wurde.

Hier bekommt das im Titel zitierte Gedicht von Eichendorff für mich eine ganz besondere Bedeutung.

Oft heben die alten Volksweisen Erinnerungen an die Kindheit an die Oberfläche und dann entstehen die Momente, in denen uns die Menschen oft erzählen, woher sie ursprünglich stammen, welche Schicksalsschläge und Entbehrungen sie durch die Kriegszeiten erleiden mussten, welchen Mut und welche Tatkraft sie aufgebracht haben um sich nach dem Krieg ein neues Leben aufzubauen. Da ist z.B. die Dame, die aus Russland als Zwangsarbeiterin auf einen Allgäuer Bauernhof kam. Bei unserem Anblick („Da sind ja wieder meine Kaschperle!)“ wird bei ihr immer die Erinnerung an ihren ersten Kuss wach, den ihr der Bäckersohn des Dorfes bei einem Faschingsball gegeben hat und den sie dann später geheiratet hat. Oder die Dame, die unglaubliche Häkel- und Stickarbeiten anfertigt u.a. als Deko für das Heim und als Geschenke für ihre Angehörigen. Sie wollte immer Hauswirtschaftslehrerin werden, aber als sie mit ihrer Mutter nach dem Krieg alleine war hat es nur zur Damenschneiderin gereicht, weil kein Geld da war.

Es begegnen uns so viele Geschichten, die oft mehr oder weniger von den Auswirkungen des 3. Reiches betroffen sind, und manchmal begegnet einem auch jemand, bei dem man sehr gemischte Gefühle bekommt. Wir besuchten einen Herren in einem Heim bei Landshut, der sehr opulente Öl-Gemälde vom Obersalzberg und der Zugspitze an seiner Wand hängen hatte, die er selber gemalt hatte. Er erzählte uns stolz, dass Emmy Göring persönlich bei einer Ausstellung seiner Bilder anwesend gewesen war und eines sogar ausgezeichnet hätte. Und er wäre damals Zahnarzt in einem Lager gewesen… Es war nicht leicht, bei diesem Besuch neutral und unbefangen zu bleiben.

Ich sehe vor meinem geistigen Auge immer wieder meine eigenen Großeltern und ihre schweren Zeiten während des Krieges, die Flucht aus dem Baltikum und den Neuanfang in einem fremden Land, sehe sie nicht mehr nur als meine Großeltern, die am Ende ihres Lebens alle Erinnerungen durcheinander warfen und tüddelig wurden, sondern als Vertreter einer Generation, die Unglaubliches mitgemacht hat und trotz allem irgendwie ein gutes Leben geführt hat.

Jetzt, wo ich selber Mutter bin und mir immer bewusster wird, wie wenig man wirklich vergessen kann und wie nachhaltig schlimme Erfahrungen einem auf der Seele liegen können, begreife ich immer mehr, was diese Menschen alles geleistet haben und verdrängen mussten um weiterzuleben. Ja, und dann überkommt mich schon auch immer wieder eine große Welle der Dankbarkeit für die friedlichen Zeiten und den Wohlstand der letzten 60 Jahre in diesem Land und für mein eigenes, weitgehend freies und selbstbestimmes Leben.

Aber es gibt auch die heiteren Geschichten, die Erlebnisse aus einer „normalen“ Zeit in einem „normalen“ Leben. Interessant und auch sehr amüsant (und manchmal auch süffisant…)wird es immer, wenn ich mich als gebürtige Hamburgerin oute und mir die anwesenden Herren mit leuchtenden Augen erzählen, dass sie da auch schon ein paar Mal gewesen sind… wo sie genau unterwegs waren sagen sie meistens nicht, aber das Lied von der Reeperbahn können sie alle mitsingen :0). Gern lässt man dann noch mal das eine oder andere deftige Seemannslied vom Stapel und dann wird einem hinter vorgehaltener Hand auch schon mal die eine oder andere nicht ganz stubenreine Geschichte erzählt. Man kommt dann schnell auf die nicht gerade zimperlichen bayerischen Volkslieder und ich darf dann meine Zweisprachigkeit unter Beweis stellen, womit ich mir inzwischen im Beisein eines Kollegen und Spezialisten in Sachen bayerisches Liedgut mein Bayerisch-Diplom ersungen habe – man konnte mich sogar öffentlich in München auf dem Odeonsplatz im Dirndl bewundern!

In unserer Rolle als leicht schräges clowneskes Paar, das völlig unbefangen auf die Leute zu geht und auch beim Schlagabtausch untereinander kein Blatt vor den Mund nimmt, lassen die meisten Menschen, denen wir begegnen, eine Unbefangenheit und Offenheit zu, die sich kaum jemand im täglichen Miteinander herausnehmen würde. Ich würde mir wünschen, diese Unbefangenheit im Alltag öfter zu erleben. Dem Clown scheinen sich die meisten Menschen gern zu öffnen, selbst wenn er sich noch so deppert anstellt. Ohne Nase wird man recht schnell schräg angeschaut und entweder ignoriert oder für verrückt erklärt (ich hab´s probiert!)

 

Besonders bei dementen Bewohnern und bei Menschen, die sich nicht mehr viel mitteilen können oder wollen, öffnet die Begegnung mit uns zuweilen Türen, die dem Pflegepersonal aus Mangel an Zeit verschlossen bleiben. Ich hab mich oft gefragt, warum das immer wieder funktioniert. Vielleicht, weil wir uns ganz auf ihre Welt einlassen dürfen und dort mit ihnen bleiben solange sie es brauchen. Als KlinikClown erleben wir oft nur kurze Begegnungen, in denen sich aber ein riesiger Raum auftut, in dem alles möglich ist und in dem jede Geschichte, sei sie auch noch so verwirrt, erzählt ihren Wert hat.

Diese Erscheinungsform als Figuren, die auftauchen, Energie aufbauen und dann wieder gehen können, wenn die „Szene“ zuende ist, erlaubt es uns, eine gewisse persönliche Distanz aufrecht zu halten. Sie bewahrt uns davor, uns emotional zu sehr in die einzelnen Begegnungen zu verstricken und ermöglicht uns zugleich, einen Moment zu gestalten, der, auch wenn er künstlich angebahnt wird – der Besuch von KlinikClowns ist ja eine Art regelmäßiges „Engagement“ – von einer großen Ehrlichkeit und Authentizität durchdrungen ist, die im Optimalfall einen positiven, vielleicht sogar heilsamen Einfluss auf den letzten Lebensabschnitt der Bewohner und auch auf das Betreuungspersonal hat.

Es gibt noch so vieles zu erzählen und indem ich dies hier schreibe kommen mir so viele neue Gedanken. Aber es soll erstmal gut sein für jetzt.

Katja, ich bin dir sehr dankbar für Deine Einladung und Deine Ermutigung. Ja, Schreiben tut gut und „mach, mach, mach“ ist der richtige Impuls.

Uli

 

1 Kommentar

  1. Grit

    Liebe Ulrike,
    oder sollte ich besser Florentine sagen?

    Vielen Dank für diesen ausführlichen Einblick in Dein Leben als KlinikClown mit der Spezialität „Living-Jukebox“. Du hast damit eine überaus wertvolle und sicher auch erfüllende Aufgabe.
    Dass Reime und vor allem Musik bei alten und kranken Menschen manchmal wahre Wunder bewirken, kann ich aus meinen Erfahrungen im Mikrokosmos meiner eigenen Familie nur bestätigen.
    Meine Mutter befindet sich in einem sehr fortgeschrittenen Stadium von Alzheimer und hat das große Glück zu Hause zu wohnen und von meinem Vater gepflegt zu werden. Ihr Kurzzeitgedächtnis ist schon lange weg, inzwischen vergisst sie auch die Ereignisse der viel weiter zurückliegenden Vergangenheit. Im Grunde vermischt sie alles. Umso mehr verblüfft meine Mutter uns immer wieder aufs Neue, wenn sie ein Gedicht wie z. B. „Er ist’s – Frühling lässt sein blaues Band wieder flattern durch die Lüfte …“ von Eduard Mörike zitiert oder eben ein Lied aus ihrer Jugend anstimmt. Sie bringt sonst alles durcheinander, doch die erste Strophe und die Melodien einiger Lieder sind zum großen Teil abrufbar. Das hat gleich mehrere positive Effekte: Sie ist stolz, dass sie sich erinnert, wir freuen uns und loben sie dafür, also freut sie sich, dass wir uns freuen – und der dunkle Alzheimer-Alltag ist für einen kurzen Moment für alle Beteiligten nicht mehr ganz so düster.
    Ich bin sehr dankbar, dass es Menschen wie Dich gibt, die den tristen Klinik- oder Heim-Alltag mit Farbe füllen.

    Grit