Immer wieder bin ich fasziniert davon, was Menschen, die den Krieg miterlebt haben, mir davon erzählen. Die Angst. Der Hunger. Nichtwissen, wann das alles ein Ende hat. Und wie es dann weiter geht.

Heute veröffentlichen wir einen Text unseres Bloglesers

 Dr. Kurt Hartwig

In Hamburg rückten am 3. Mai 1945, also bereits fünf Tage vor dem offiziellen Waffenstillstand, die britischen Truppen, ein. Die Stadt hatte kapituliert. Wehrmacht und SS waren abgezogen. Seit dem 29. April 1945 war bereits beiderseits nicht mehr geschossen worden, ein Umstand, der mich vor einer gefährlichen Situation schützte, nämlich vor dem drohenden Angriff eines Tieffliegers.

Am 1. Mai 1945 fuhr ich auf einem offenen Militärlastwagen mit meiner Mutter und meiner Schwester von Lübeck nach Hamburg, als plötzlich voraus ein feindlicher Tiefflieger heran brauste. Die Ladefläche war gefüllt mit Flüchtlingen, wie wir es waren, und mit Soldaten. Unser Fahrzeug stoppte sofort, und in wilder Panik versuchten alle, von der Ladefläche schnellstmöglich hinunter zu kommen. Da die Ladeklappe nicht geöffnet war, mussten alle von der hohen Bordwand springen. Es kam zu chaotischen Zuständen. Ein Offizier sprang auf eine Frau, die das Fahrzeug schon verlassen hatte, und verletzte sie mit seinen Stiefeln am Kopf. Es war keine Zeit mehr, sich zu verbergen. Der Tiefflieger kam näher; nun musste er mit seiner Bordkanone den Lkw in Flammen schießen oder mit seinem MG dessen Insassen „beharken“. Nichts geschah! Ohne einen Schuss abzugeben, überflog er uns und verschwand in der Ferne, ohne zurückzukehren. Welch ein Glück!

Wir hatten das Dorf in der Mark Brandenburg, in das wir 1943 aus Hamburg vor den alliierten Bombern geflüchtet waren, am Abend zuvor, dem 30. April 1945, wegen der sich nähernden russischen Truppen verlassen und waren, auf einem Militärfahrzeug mitgenommen, am Morgen des 1. Mai 1945 in Lübeck angelangt, wo wir die Gelegenheit fanden, auf dem offenen Militärlastwagen in Richtung Hamburg mitzufahren.

Am Hamburger Hauptbahnhof wurden wir abgesetzt. Welch ein Bild bot sich uns! Es war Frühling, die Menschen hatten ihre Mäntel abgelegt. Die Frauen liefen in bunten Kleidern herum. Es war fast so, als ob es keinen Krieg gegeben hätte. Für den 3. Mai 1945

war ein strenges Ausgehverbot angeordnet worden. Am Nachmittag rollten die britischen Panzer an; die Stadt war vor dem Rathaus einem britischen General übergeben (siehe Bild). Ab nun wurde Hamburg von britischen Militärs regiert (British Military Government).

Ihre erste uns ins Auge fallende Maßnahme war, ihre Truppen vor dem Kontakt mit den Deutschen zu warnen. Überall hingen Plakate mit der Aufschrift „Don´t fraternize“. Aber schon in der nächsten lauen Maiennacht sah ich in dem Eingang eines Nachbarhauses eng umschlungen einen Tommy mit einer Frau.

Allmählich fasste die Militärregierung Vertrauen zu den Deutschen. Es gab keinen Widerstand: die von den Nazis für den Fall der Besatzung angekündigten „Wehrwölfe“ waren nur ein Phantom geblieben. Die Briten hatten ein Gebiet besetzt, aus dem vor eineinhalb Jahrtausenden die Vorfahren der Engländer gekommen waren. So fern waren sich letztere und die Deutschen nicht, nannten sie einander doch bis zum Ersten Weltkrieg noch „Vettern“. Hamburg nahm darüber hinaus für sich in Anspruch, ein britisches Flair zu besitzen.

Die Briten waren vorbildliche Besatzer. 1947 trat ich dem Anglo-German Swing Club bei, einem Zweig des British Forces Network. Die Mitglieder trafen sich in der Kleinen Musikhalle und nahmen an einer eigenen BFN-Sendung des Clubs teil, die mit dem „St. Louis Blues in Marchtime“ eingeleitet wurde. Chef war ein junger gut aussehender Offizier in Uniform namens Neville Pauly, der uns auf britische Art lässig und witzig in die Welt von Swing und Jazz einführte. Bei dem Club handelte es sich um eine Institution der reeducation, die zum Ziel hatte, die deutsche Jugend zu westlichem Lebensstil zu erziehen. Die Stimmung war für mich so ganz neu und anders als beim Jungvolk, dem ich noch zwei Jahre zuvor angehört hatte. Außerdem: Einfache britische Soldaten fanden es gut, unsere Freundschaft zu suchen. Sie brachten Gin mit, wir lieferten ihnen in unseren Wohnungen private Gemütlichkeit – fern von ihrer Kaserne. Ich spielte mit britischen Soldaten eine Zeit lang regelmäßig Basketball. Meine Schwester arbeitete für die britische Militärregierung und hatte später lange nach Ende der Besatzungszeit freundschaftlichen Kontakt zu ihren inzwischen pensionierten britischen Offiziers-Vorgesetzten.

Die Zeit der britischen Militärregierung endete mit der Gründung der Bundesrepublik Deutschland. Ich denke gern an sie zurück.

Foto: Initiative Echte Soziale Marktwirtschaft (IESM)  / pixelio.de